Peter Weibel







PETER WEIBEL | 1968 |
ACTION LECTURE |


Die Lautstärke des Publikums regelt die Projektion mehrerer Filme und ein Magnetophon, einen Scheinwerfer und einen Plattenspieler. Ist das Publikum lautstark genug, leuchtet der Scheinwerfer auf und über einen lichtabhängigen Widerstand schalten sich automatisch Magnetophon und Projektoren ein. Durch den Scheinwerfer wird aber das Licht der Leinwand geschwächt und durch die Lautstärke des Publikums der Ton des Magnetophons. So entsteht eine Welle von Interaktionen zwischen Bühne und Saal.
© Peter Weibel







PETER WEIBEL | 1969 |
AUDIENCE EXHIBITED |


Die Besucher einer Ausstellung wurden interviewt und auf Video
aufgezeichnet. Diese Interviews laufen simultan im einem Raum der Galerie auf einem Monitor. Auf einem anderen Monitor läuft ein Band, das gerade erst aufgezeichnet wurde, oder Bänder können hier auf Anfrage wiederholt werden, so daß die Besucher dieser Ausstellung sich selbst wiedersehen können. Die Öffentlichkeit einer Ausstellung stellt sich so selbst aus, Betrachter werden betrachtet; eine Entmaterialisierung des Kunstobjekts und eine Transformation des Kunstkonzepts. Erfahrung von Zeit, psychologische Konfrontation mit dem eigenen Abbild im öffentlichen Raum, Zeitverschiebungen.
© Peter Weibel





PETER WEIBEL | 1979 |
BEOBACHTUNG DER BEOBACHTUNG: UNBESTIMMTHEIT |


Kameras und Monitore sind einander so gegenübergestellt, dass der Betrachter sich in den Bildschirmen nie von vorne sehen kann, so sehr er sich auch wendet und windet. Der Beobachter seiner selbst sieht von sich nur differierende Teile. Er kann nicht sein Gesicht sehen. Eingeschlossen im Raum, ist jeder Raumpunkt sein Gefängngiswärter, die Perspektive sein tödliches Schicksal.
Diese Videoskulptur gehört zur Videoskulptur »Kruzifikation der Identität«, denn in beiden Fällen hat man mit Kreuzen zu tun.
© Peter Weibel




PETER WEIBEL | 1979 |
DER TRAUM VOM GLEICHEN BEWUßT-SEIN ALLER |


Diese dreiteilige Installation beeinflußt jeweils in einer bestimmten Closed-circuit-Anordnung die Wahrnehmung von Form und Farbe: In Teil 1 wird ein Winkel auf zwei aufeinander gestapelten Monitoren zu einem verzerrten Quadrat. In Teil 2 (Abbildung) wird eine Ellipse im Raum zu einem Kreis auf dem Monitor, paßgenau überlagert von einem mit Bleistift gezeichneten Kreis, der von einem Polaroid aufgezeichnet wird. In Teil 3 operiert Weibel mit Neonlicht und einem zeitlich verschobenen Vermischen der elektronischen Grundfarben Rot, Grün, Blau. Diese formalen Analysen der Phänomene des videospezifischen Rückkopplungseffekts veranschaulichen die Differenz zwischen der Realität des Raumes und dem Abbild auf dem Monitor und durchbrechen nach Peter Weibel »die Homogenität von Zeit und Raum«. Es handelt sich eben doch nur um einen »Traum vom gleichen Bewußt-Sein aller«, denn bei den instabilen Prozessen von Rückkopplung handelt es sich nicht um Austausch von Information, sondern um Kommunikation, die sowohl den Empfänger als auch den Sender beeinflußt.



PETER WEIBEL | 1980/90 |
DER IMAGINÄRE WÜRFEL |


VIDEOINSTALLATION

Installationsansicht | © Peter Weibel

1980 (Rekonstruiert 1990). 2 Kameras, Monitor, Mixer, Wandzeichnung

Zwei verschieden große Linienkonfigurationen an der Wand: eine kleine perspektivische Darstellung einzelner Würfelkanten und an einer anderen Stelle scheinbar beliebig angeordnete,
mit Klebeband hergestellte Linien werden von zwei Kameras aufgenommen, über einen Mixer vereint und ergeben so am Monitor das Bild eines Kubus. Bewegt sich der Betrachter im Blickfeld einer Kamera, wird er in den virtuellen Raum des Kubus integriert.

Auszug aus: »Im Licht des Monitors« 1990. [Ausstellungskatalog] © DIETER BOGNER



PETER WEIBEL | 1984 |
DER KÃœNSTLICHE WILLE | 01:40:00 |


ELEKTRONISCHE MEDIENOPER

Videostill | © Peter Weibel

…
Ritual ist der Kitsch von morgen.
Aller Ländereien verlustig, blieb Österreich nur mehr das »weite Land« der Seele. Die Geburt der Psychokunst war das Ergebnis dieser sozialen und politischen Verluste, aber nicht in Formen des Widerstands oder der Überwindung, sondern als Anpassung und Kapitulation. Die geschädigte Nation wird zu einem Volk der Selbstbeschädigung. Die Idee einer österreichischen Nationalität wird angesichts seiner wirtschaftlichen, geistigen und sozialen Abhängigkeit (z.B. von Deutschland) zu einer Lüge. Psychokunst wird zum devoten Ornament der Anpassung des Verbrechens, der Lüge und Kapitulation. Diese aus der Jahrhundertwende kommende Tendenz zur Neurotisierung als irrationaler Ausdruck einer Nation, die den realen Verlust ihrer weltpolitischen Rolle, die Reduktion eines mächtigen Vielvölkerstaates auf einen ohnmächtigen Kleinstaat nicht ertragen und bewältigen kann, verstärkt aber nur den Weg zur Reduktion. Der Rückblick auf die vergangene Glorie verkauft die Zukunft. Aus Angst vor der Zukunft bzw. im Gefühl, keine Zukunft zu haben, blickt Ö unentwegt zurück. Der Blick zurück, und Kunst, welche diesen Blick belebt, werden vom Feuilleton kultisch hochgejubelt, weil sie auf infantile Weise Sicherheit geben. Man schraubt uns ständig auf die Jahrhundertwende und auf die Infans-Kunst zurück. Eine widerwärtige nekrophile Nostalgie mästet unter dem Beifall einer korrupten Presse mit erpreßten Millionen die Mumien der Vergangenheit. Ich bin der Meinung, man gebe ihnen allesamt einen Tritt, damit sie die Hintertreppe der Geschichte endgültig hinunterfallen. Offensichtlich gibt es nun mehrere Nationen, deren Götterdämmerung begonnen hat und die ihr Ende nahen fühlen, deshalb starren sie wie gebannt auf das Wien der Jahrhundertwende, ohne es zu kennen. Denn die Bilder, die uns von Wiens Jahrhundertwende geliefert werden, sind gefälscht. Österreichs Kultur kannte auch Momente der Meuterei, der Analyse, der Anklage, der Auflehnung. In einem Polizeistaat, der von 1846 bis heute (1984) andauert, hat es zwar keine politische Rebellion gegeben, doch etliche geistige.

Mein Stück blickt mit äußerster Entschlossenheit nach vorne, gibt Ö eine Zukunft, formt das Österreich der Zukunft. Mein Stück hat allerdings gegenüber Salzburg den enormen Nachteil, mehr zur Diskussion zu bieten als den Brustumfang der wechselnden Hauptdarstellerinnen. Aber ich bin mutig genug zu hoffen, Österreichs Kulturrichter und Nimmerrichter werden es mir vergeben. In einem Land, wo der gute Ton sich reimt auf Korruption, wird mein Stück allerdings ein Mißklang sein. Man wird zugeben, daß es in einem Land der subalternen Todespathetik, der theatralischen Rituale des Vergessens und Verdrängens, der versteinerten Machtverhältnisse und kaschierten Grausamkeit, schwerfällt, zu sein, vor allem Vision zu sein.
…
© PETER WEIBEL

PETER WEIBEL, SUSANNE WIDL, RENÉ FELDEN u. v. a. · Musik: NOA-NOA, ZYX · Visueller Kommunikator und Objekte: WERNER DEGENFELD · Produktionsleitung: MARCUS EIBLMAYR, MARCO OSTERTAG · Bildregie: GREGOR EICHINGER · Spezialtechnik: FRANK MICHAEL HABLA
NOA-NOA: Erich Schindl: Frisbee, gitarre / Heinz Hochrainer: altosax / Thomas Mießgang: baß / Wolfgang Poor: batterie / Peter Weibel: stimme, video / Marco Polo: e-piano, synth, org,



PETER WEIBEL | 1992 |
CARTESIANISCHES CHAOS |


Die interaktive Installation besteht aus einer auf dem Boden liegenden Holzplattform, die mit Sensoren ausgestattet ist, und aus einer Großprojektion des digitalen Abbildes eines realen Raumes, das wie eine an den Seiten offene Box wirkt, auf deren Deckel sich eine Wasserflächensimulation befindet. Die Bewegungen der Beobachter auf der Plattform erzeugen entsprechende Wellenbewegungen im Bild der Wasseroberfläche. Der Interaktor kann also von außen — als externer Beobachter — den projizierten künstlichen Raum betrachten und steht gleichzeitig als interner Beobachter im realen Raum. Da Wasser ein dynamisches System ist, kann der Interaktor durch heftigeres Auftreten auf die Holzplatten die virtuellen Wellenbewegungen verstärken, bis diese einen chaotischen Zustand erreichen und damit die Selbstzerstörung des Bildes hervorrufen (die Wellen überschwemmen das Bild). In diesem Fall ist der Beobachter Teil der Störquelle. Umgebung und Beobachter bilden somit ein wechselseitig voneinander abhängiges System.
© Claudia Giannetti





PETER WEIBEL | 1993 |
DIE WAND, DER VORHANG (GRENZE, DIE) FACHSPRACHLICH AUCH: LASCAUX |


Platos Höhlen-Modell der Welt wird neu interpretiert: die Schnittstelle als Vorhang.
Peter Weibel

Die Höhlenzeichnung von Lascaux, die den Höhepunkt der eiszeitlichen Felsbildkunst um 15 000 v. Chr. darstellt, wird als Bild im Computer gespeichert und mit einem Datenbeamer auf eine Leinwand projiziert. Tritt ein Betrachter vor die Leinwand, wird sein Bild von einer Kamera erfaßt und erscheint mit kurzer Zeitverzögerung als verzerrte Silhouette im Bild auf der Leinwand. Dort löst jede Körperbewegung Bildverzerrungen aus. Der Betrachter wird zum Teil dessen, was er beobachtet. Weibel nimmt die Höhlenmalerei von Lascaux zum Anlaß, ein neues Schnittstellenmodell zu entwerfen, das unsere heutigen Vorstellungen der Welt- und Raumwahrnehmung prägt.

Die Arbeit wurde in einer späteren Version 1999 auch unter dem Titel »Wand von Lascaux« realisiert.











PETER WEIBEL | 2007 |
DER IMAGINÄRE WÜRFEL II |


CLOSED-CIRCUIT-INSTALLATION

Ausstellungsansicht [Ausschnitt] | © Peter Weibel

1980 (Rekonstruiert 1990)
2 Kameras, Monitor, Video-Mischer/Blue-Box, 1 Zeichnung, 1 Wandzeichnung

Im Rahmen der Ausstellung
1.X-tended
Von Menschen, Maschinen, Avataren und anderen interessanten Rechenoperationen
Medienkunst aus Österreich. Eine Ausstellungsserie »in progress«.
NR 1/07
Sonntag, 21. Oktober bis Sonntag, 28. Oktober 2007
Peter Weibel






Peter Weibel    BIOGRAFISCHE DATEN

Peter Weibel wurde in Odessa geboren, er studierte Literatur, Film, Mathematik, Medizin und Philosophie in Wien und Paris.

1976-81 Lektor für »Theorie der Form«
1981-84 Gastprofessor für Gestaltungslehre und bildnerische Erziehung an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien
1981 Gastprofessor am College of Art and Design in Halifax, Kanada
1979/80 Gastprofessor für »Medienkunst«
1981 Lektor für »Wahrnehmungstheorie«
1982-85 Professor für Fotografie an der Gesamthochschule Kassel
1984-89 Associate Professor for Video and´Digital Arts, Center for Media Study, State University of New York at Buffalo, N.Y.
1989-94 Direktor des Instituts für Neue Medien an der Städelschule in Frankfurt/Main
seit 1984 Professor für visuelle Mediengestaltung an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien
1986-95 künstlerischer Berater der Ars Electronica in Linz
1992-95 künstlerischer Leiter der Ars Electronica in Linz
1993-99 Österreich-Kommissär der Biennale von Venedig
1993-99 künstlerischer Leiter der Neuen Galerie am Landesmuseum Joanneum in Graz
seit 1999 Vorstand des Zentrums für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe


Interview ::
Peter Weibel über die Rolle des Museums im 21.Jahrhundert

Was sind die Aufgaben eines modernen Museums?

Mein Ziel ist es, das Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe zu einem museologischen Leitmodell zu machen. In Deutschland hat noch keiner begriffen, dass die Aufgabe eines modernen Museums darin besteht, Partner bei der Produktion von Kunst zu sein. Außerdem muss es Sparten übergreifend arbeiten: nicht nur Malerei und Skulptur, sondern auch Fotografie, Film, Video, Computer, Aktion, Performance, Installation, Architektur, Design. Nur so kann das Museum den künstlerischen Praktiken seiner Zeit folgen. In Deutschland gibt es eigentlich gar kein Museum für moderne Kunst, sondern nur für moderne Malerei. Heinrich Klotz hat als Gründer des ZKM zwar die traditionellen Künste und die neuen Medien zusammengebracht, aber die Architektur draußen gelassen. Eine Besonderheit am ZKM ist außerdem die Musik. Denn die Praxis zeigt: Das Bild kommt heute nicht ohne Ton aus. Das war also eine folgerichtige Erweiterung. Allerdings hat das ZKM die Netzphase verschlafen. Deshalb zeigen wir gegenwärtig die Ausstellung »net_condition« mit Arbeiten, die über das Netz gesteuert werden. Hier versammelt sich die augenblickliche Avantgarde.

Aber das Karlsruher Zentrum ist zugleich auch ein traditionelles Museum?

Das ist nur eine seiner Möglichkeiten. Das Museum der Zukunft muss zusätzlich zum Produzenten und zur Forschungsstätte werden. Die Medienkünstler brauchen Partner, schließlich sind ihre Produktionskosten enorm hoch. Dazu gibt es heute schon Ansätze: Auftragswerke wie bei Oper und Theater. Das gleiche wird in der Medienkunst passieren. Ich will deshalb auch das Artist-in-Residence-Programm des ZKM erweitern. Wir sind das erste Museum, das Wissenschaftler anstellt, um Grundlagenforschung zu betreiben. Deshalb passt auch der Name »Zentrum« viel besser.

Die moderne Kunst hatte bisher immer die Tendenz, sich zu entgrenzen: über die Gattungen hinaus, ins Leben hinein. Warum wollen Sie sie nun wieder in einen institutionellen Rahmen zurückholen?

Die Kunst braucht die Einbindungen. Es gibt marktbezogene Kunst und die Kunst der offenen Handlungsfelder. Deren Ergebnisse kann man nicht vermarkten. Deshalb muss die Gesellschaft bereit sein, ihnen einen anderen institutionellen Rahmen zu geben. Es gibt gerade im Bereich der Avantgarde viele Kunstpraktiken, die nicht marktfähig sind, sozusagen Grundlagenkunst. Diese muss wie die Grundlagenforschung von der Gesellschaft basisfinanziert werden. Das ZKM ist gleichsam das Max-Planck-Institut für Avantgarde-Kunst.

Warum geht es bei den Neuen Medien vor allem darum, den Körper zu verlassen?

Ich erkläre das mir so: Raum und Zeit sind für den Menschen Gitterstäbe, die Welt ist also ein lokales Gefängnis. Mit der Technik hat man versucht, sich aus diesem Gefängnis zu befreien. Die Schrift war die erste dieser Erfindungen: Ich konnte über etwas berichten, was zeitlich vergangen und räumlich nicht anwesend war. Jede Technik ist Teletechnik: Es geht immer um die Überwindung von Grenzen. Das größte Gefängnis aber ist der Körper. Er ist der Ort, wo die Natur zuschlagen kann: Sie macht uns krank. Dass unser kostbarstes Organ, dasGehirn, nur von einer dünnen Knochenschale umgeben ist, erscheint mir wie eine Fahrlässigkeit der Natur. Die Frage lautet also: Wie könnte ich mir eine Backup-Kopie von meinem Gehirn machen, damit nicht schon durch einen einzigen Sturz die mentalen Fähigkeiten verloren gehen? Wie kann ich dieses System der Natur verbessern?

Was ist dann die Aufgabe der Kunst? Befördert sie die Beherrschung der Natur oder reflektiert sie diesen Prozess?

Kunst hat beide Funktionen. Als Recherche befördert sie die Technik. Die Medien helfen, die technologische Entwicklung zu entdecken und begleiten sie gleichzeitig kritisch. Die Aufgabe der Kunst besteht darin, Türen zu öffnen, wo sie keiner sieht. Der Künstler hält optionale Handlungsfelder offen – als kritischer Spiegel oder utopisches Reservoir. Die Gesellschaft schafft sich in Galerien und Museen mit der Kunst einen institutionellen Rahmen, wo andere Produktionsweisen und Weltsichten möglich sind. Dort sammelt sich kritisches Potenzial, mit dem gängige gesellschaftliche Institutionen untersucht beziehungsweise transformiert werden.

Welche Wirkung hat diese kritische Kunst, wenn die Gesellschaft sie in einen autonomen Raum stellt, damit sie sich nicht ernstlich damit befassen muß. Das Museum verkommt dabei doch zum Event-Center einer Tourismusbranche.

Das ist nur ein Teil der Kunst. Die Kunst als Expertin für Vergangenheit. Alles was gesellschaftlich überflüssig wird, daraus macht man Kunst. Wenn man beim Bauen mehr mit Stahl und Glas arbeitet, dann wird der Ziegel kunstfähig. Der Großteil der Kunst ist doch zuständig für Gefühlskitsch und die nostalgische Erinnerung an vergangene Produktionsformen. Mich interessiert dagegen die kritische Kunst. Auch sie hat unsichtbare Grenzen. Eine Bank in Berlin zum Beispiel leistet sich gleichzeitig einen Kunstraum, in dem ein kritischer Künstler auftritt. Die Gesellschaft läßt Kritik in einem Ghetto also zu. Kunst selber muss jedoch ein Feld offener Praxis werden, wo sie die unsichtbaren Grenzen zu überschreiten versucht.

Sehen Sie Ihren Job als ZKM-Chef also als Verlängerung Ihrer früheren Aktionskunst mit anderen Mitteln?

Ich suche mir in der Hauptsache Künstler aus, die progressive Ansätze der sechziger und siebziger Jahre unter neuen Bedingungen fortsetzen. Das Neue verdrängt das Alte nicht. Im Gegenteil: Das Neue ermöglicht die Wiederkehr des Alten, weil nur durch den Blick nach hinten etwas entsteht, was man Tradition nennen kann. El Grecos Expressionismus ist zum Beispiel erst im 20. Jahrhundert erkannt worden. Auch die berühmten schwarzen Bilder von Goya waren im 19. Jahrhundert geradezu unverkäuflich.

Walter Benjamins These vom Verlust der Aura in den modernen Medien wie Film oder jetzt auch Computer hat sich scheinbar bestätigt. Warum bewundern wir noch immer die alten Bilder, wo mit Farbe auf Leinwand gemalt wurde?

Die technischen Medien erlauben uns, ein besseres Modell von der realen Welt zu schaffen. Diese Welt besteht heute aber aus übereinander geflochtenen Parallelwelten. Die Welt der Aura und der Reproduktion schließen sich nicht gegenseitig aus. Das nennt man dann die postmoderne Ambivalenz oder Unübersichtlichkeit. Beides sind Perspektiven aus der historischen Vergangenheit. Wenn ich heute in der einen Welt eine Variable ändere, dann ändere ich auch etwas in einer anderen Welt: Die Sphären korrelieren. Das Neue ist durchaus problematisierbar, weil auch das Alte Vorteile gehabt hat. Ein Blatt Papier hat den Vorteil, dass ich es zerknüllen und leicht transportieren kann. Ein Fernsehapparat hat den Vorteil, dass er bewegte Bilder zeigt. Ich kann ihn aber nicht in die Hosentasche stecken. In Zukunft müssen wir versuchen, die Vorteile der alten und neuen Medien zu vereinen, indem wir zum Beispiel Bildschirme entwickeln, die dünn wie Papier sind und in die Hosentasche passen.

Sind solche Entwicklungsaufgaben Sache des Künstlers?

Der Künstler soll die technischen Errungenschaften der militärischen, industriellen und kommerziellen Welt rezivilisieren. Mehr denn je bedarf die Gesellschaft des Künstlers, der gegen Monopole vorgeht, damit nicht nur Firmenkonglomerate wie Microsoft an der Konstruktion der Wirklichkeit teilhaben. Wenn ich Entwicklung einfordere, richte ich mich an eine »cultural community«, einen Mix von Technikern, Freaks, Hackern und Künstlern.

Die Ingenieure machen also die Hardware, die Informatiker die Software und die Künstler die Verpackung?

Nein, alle tauschen untereinander Ideen aus, die sehr schnell in Kooperation umgesetzt werden können. Ich liebe die Software-Spezialisten, die weder Ingenieure noch Künstler sind. Das ist der Prototyp des Künstlers der Neuen Medien. Der Künstler der Zukunft ist abhängig von solchen Spezialisten, die frei von den Bindungen an eine kommerzielle Firma sind. Eine Stadt wie Berlin ist voll von solchen Leuten: Diese freischwebende technische Intelligenz ist eines der größten Potenziale, das die Techno-Kultur erzeugt hat.

Welche Forschungsthemen wird das ZKM in Zukunft bearbeiten?

Wir stehen an der Schwelle einer Materialrevolution: von der Nanotechnologie bis zum Quantencomputer. Bei der Umgestaltung der Medienwelt durch den Übergang zum optischen Computer möchte ich mit dem ZKM mitkonstruieren. Das Problem ist jedoch: Woher nimmt man dafür die Leute und das Geld? Wenn man da nicht investiert, wird der erhoffte Modernisierungsschub an Deutschland vorbei laufen.

(Quelle: Der Tagesspiegel/Online Archiv, Interview: Roland Berg – 12.1.2000)


AUSSTELLUNGEN/PROJEKTE [AUSWAHL]
Bibliographie [Auswahl]
Kritik der Kunst, Kunst der Kritik : es says & I say, Wien 1973; Mediendichtung : Arbeiten in d. Medien Sprache, Schrift, Papier, Stein, Foto, Ton, Film u. Video aus 20 Jahren, Wien 1982; Zur Geschichte und Ästhetik der digitalen Kunst, Supplement zum Katalog Ars Electronica ›84, Hg. Peter Weibel, Linz 1984; Die Beschleunigung der Bilder in der Chronokratie, Bern 1987; Inszenierte Kunst Geschichte,Wien 1988; Vom Verschwinden der Ferne. Telekommunikation und Kunst, Hg. Peter Weibel und Edith Decker, Köln 1990; Feminismus und Medien, Hg. Peter Weibel und G. J. Lischka, Bern 1991; Kat. Bildlicht, Hg. Peter Weibel und Wolfgang Drechsler, Wien 1991; Strategien des Scheins, Hg. Peter Weibel und Florian Rötzer, München 1993; Cyberspace, Hg. Peter Weibel und Florian Rötzer, München 1993; Kat. Kontextkunst. the art of the 90›s, Hg. Peter Weibel, Köln 1994; Kat. Der Pavillon der Medien: eine neue Gleichung zwischen Kunst und Architektur, Hg. Peter Weibel, Wien/New York 1995; Evolutionäre Symmetrietheorie. Selbstorgnisation und dynamische Systeme, Hg. Peter Weibel und Werner Hahn, Stuttgart 1996; Jenseits von Kunst, Hg. Peter Weibel, Wien 1996; Inklusion: Exclusion, Hg. Peter Weibel S. Zizek, (Symposion), Passagen, Wien 1997; Kat. Kunst ohne Unikat : Edition Artelier 1985 – 1998, Hg. Peter Weibel, Kaiserslautern 1998; Peter Weibel. Globale Gier, Kärntner Galerie, Klagenfurt 1999; net_condition, Hg. Peter Weibel und Timothy Druckrey, Steirischer Herbst, Graz, ZKM Karlsruhe, MIT Press, Cambridge, Mass. 2000; Das neue Menschenbild, Zur Konstruktion des Humanen; Peter Weibel, Peter Sloterdijk, Michael Houellebecq, Alain Finkielkraut, Hg. ZKM Karlsruhe 2000; CTRL [Space], Hg. Thomas Y. Levin, Ursula Frohne und Peter Weibel, MIT Press, Cambridge, Mass., 2002; Iconoclash, Hg. Bruno Latour und Peter Weibel ; MIT Press, Cambridge, Mass. 2002; Future cinema,Hg. Jeffrey Shaw und Peter Weibel, MIT Press, Cambridge, Mass. 2003; Making Things Public. Atmospheres of Democracy, Hg. Bruno Latour und Peter Weibel, ZKM / The MIT Press, Cambridge, MAss 2005;